Die Marktstraße
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Mein Name ist Hölderlin, Johann, Christian, Friedrich Hölderlin. Man sagt mir nach, ich sei neben Schiller und Goethe einer der größten Lyriker meiner Zeit gewesen. Überdies war ich auch der erste moderne Autor, sagt man.
Ich lade sie ein, mit mir einen Spaziergang durch meine Heimatstadt Nürtingen zu machen. Wir gehen zur Marktstraße, vom Rathaus aus hat man einen guten Blick in Richtung Stadtkirche und zu den markanten Gebäuden des spätbarocken Ensembles aus ehemaliger Stadtschreiberei, Vogtei (Oberamt) und Lateinschule.
Die Nürtinger Lateinschule besaß im Land einen ausgezeichneten Ruf. Die Söhne der Oberschicht, der Ehrbarkeit, gingen in der Regel in die Lateinschulen und Klosterschulen des Landes. Ich wurde mit fünf Jahren in die Lateinschule aufgenommen und besuchte sie bis zur Konfirmation und zum letzten Landexamen, 1784. Meine Freunde nannten mich Fritz oder Holz. In meinen letzten Schuljahren besuchte auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling unsere Lateinschule. Mit ihm studierte ich später am Tübinger Stift Theologie. Hier in Nürtingen war er froh, dass ich ihn vor den Misshandlungen der Mitschüler schützte.
In der Marktstraße haben einige Schriftsteller gewohnt, die ich ihnen nun vorstellen möchte. Eduard Mörike bezog für kurze Zeit eine Wohnung in der Marktstraße 6 bis er im Herbst 1871 nach Stuttgart umzog, auch mit der Begründung, dass es in der nächsten Umgebung „an Wald und schattigen Wegen fehlt“. Dieses Haus hat mich nie beherbergt, aber meine Manuskripte und mein persönliches Hab‘ und Gut verwahrten meine Mutter und Schwester an diesem Ort, als sie hier ab 1812 für einige Jahre wohnten.
Im Dekanat, Marktstraße 19, lebte Klaus Harpprecht von 1934 bis 1943. Wie die NS-Ideologie eine Kindheit und Jugend in Nürtingen während dieser Diktatur prägte, überlieferte er in seinen Werken. Von elementarer Natur war der Konflikt mit seinem Vater, der die allgegenwärtige Gewaltherrschaft verabscheute. Seine jugendliche Begeisterung bekennt Harpprecht: „Ich, der rotfuchsige Pfarrerssohn, marschierte beim Exerzieren stets im ersten Glied. Meine kräftige Stimme empfahl mich für höhere Aufgaben: Ich brüllte scharfe Kommandos. Also avancierte ich unaufhaltsam zum Jungenschaftsführer. Doch dies war keineswegs die Endstation meiner nationalsozialistischen Karriere. Friedrich Hölderlin verdanke ich’s, dass mein Name zum ersten Mal in der Zeitung stand, im Blättle, 1940 oder 1941: Auf dem Markt hatten sich die braunen Bataillone um die sogenannten Spitzen der Partei, der Stadt und des Staates versammelt, um weiß der Teufel welchen Sieg zu feiern.“
Über Nürtingen schrieb Klaus Harpprecht in seinem „Brief aus Schwaben“: „Man darf der Stadt keinen Vorwurf machen, dass sich der Genius schon lange aus ihren Mauern verzogen hat. Schließlich kann der schöne Umstand, dass Friedrich Hölderlin die Gassen um die Stadtkirche als seine eigentliche, Eduarde Mörike wenigstens als seine halbe Heimat angesehen haben, keinen Bürger des 20. Jahrhunderts ernähren, keinen eingesessenen und keinen zugewanderten.“
AN MEINE FEINDE
Sie haben mir
die Haut abgezogen
und debattierten
über meine Wunden.
Ich versuche
mitzureden,
ihnen zu erklären,
daß ich friere
und meine
Seele
ihren Balg braucht.
Aber sie,
denen ich vieles
nachsah,
wissen es besser:
frierende Seelen
seien derzeit
üblich. Peter Härtling, 1977
Peter Härtlings Familie wohnte 1946 für kurze Zeit in der Marktstraße 15, bevor sie in die Neuffener Straße 75 umzogen. Über die Ankunft in Nürtingen nach dem 2. Weltkrieg schrieb er: „Als ich aus dem Güterwaggon, der zufällig in Nürtingen abgekoppelt worden war, die Alb sah, las ich die Urschrift meiner Landschaft. Und von diesem Augenblick an war es ohne Belang, ob mich die Stadt aufnehmen würde. Sie tat es nicht.“
ALBENGEL
Du, die Seele
Aus Holz,
wacholdern.
Manchmal,
an Abenden mit
gläsernem Sommerwind,
manchmal
beginnst du zu tönen,
und
dein innerer Gesang
ist weithin zu hören
in den Tälern,
wo er schwillt
und sich bricht. Peter Härtling, 1990
Es sind leidvolle Erfahrungen: Krieg, Flucht, Vertreibung, Fremdsein, der Selbstmord der Mutter. „Mir ist ein Thema gegeben, über das ich seit langem nachdenke: wie die Erinnerung des Menschen beschaffen ist und wie wir der Vergangenheit erzählend Herr werden.“ Dieser Lebensaufgabe hat sich Peter Härtling mit Leidenschaft gewidmet und uns ein reiches literarisches Erbe hinterlassen.
ANFÄNGE
Diese Anfänge:
da ließen sich Verse
über den Fluß,
den Neckar werfen,
und hungerten nach Antwort.
Mit meinem Mädchen
suchte ich in den Wäldern
nach Spuren:
da nämlich
ist einer
vor mir gegangen.
Und in den Nächten
wuchs ich
bis zu den Sternen.
Mein Land ist es
geblieben.
Dort schrieb ich meine Erwartung
hin zum Horizont,
verlor mich dort
in seliger Bläue,
rieb meine Gedanken am Trauf,
dort betrat ich,
mich vorausredend,
ein altes Haus,
um das Gespräch zu lernen,
über Verse, über Bücher. Peter Härtling, 1988
Peter Härtling schrieb einen Roman über Eduard Mörike „Die dreifache Maria“ und veröffentlichte ein Buch über mich: „Hölderlin. Ein Roman.“ Inzwischen in viele Sprachen übersetzt und auch heute noch ein Werk, das biografisch detailliert das Leben Friedrich Hölderlins, also mein Leben, einer breiten Leserschaft erschließt. Für Peter Härtling hatte dieser Roman zudem eine sehr persönliche Komponente: „… auf dieses Buch habe ich zugeschrieben. In ihm steht ein Stück meines Lebens, meiner Hoffnungen, die mir der große vergangene Bruder weitergegeben hat.“
Peter Härtling spricht davon, dass ich, „der große vergangene Bruder“, ihm „Hoffnungen „weitergegeben“ habe, welche Ehre!
Ich habe Ihnen meine Stadt gezeigt, und lade ich Sie nun ein, mir in die Umgebung Nürtingens zu folgen. Der Rundwanderweg „In Hölderlins Landschaft“ führt über Höhenwege mit Aussichtspunkten, durch Wälder und auf Wiesenwegen zu Orten, die ich gerne aufsuchte.
Der Spaziergang
Ihr Wälder schön an der Seite,
Am grünen Abhang gemalt,
Wo ich umher mich leite,
Durch süße Ruhe bezahlt
Für jeden Stachel im Herzen,
Wenn dunkel mir ist der Sinn,
Den Kunst und Sinnen hat Schmerzen
Gekostet von Anbeginn.
Ihr lieblichen Bilder im Thale,
Zum Beispiel Gärten und Baum,
Und dann der Steg, der schmale,
Der Bach zu sehen kaum,
Wie schön aus heiterer Ferne
Glänzt Einem das herrliche Bild
Der Landschaft, die ich gerne
Besuch in Witterung mild.
Die Gottheit freundlich geleitet
Uns erstlich mit Blau,
Hernach mit Wolken bereitet,
Gebildet wölbig und grau,
Mit sengenden Blitzen und Rollen
Des Donners, mit Reiz des Gefilds,
Mit Schönheit, die gequollen
Vom Quell ursprünglichen Bilds. Friedrich Hölderlin, nach 1806, nicht genauer datierbar
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