Per Pedal zur Poesie – Literarischer Radweg Nr. 08
Nürtingen und seine Umlandgemeinden pflegen ihr touristisches Profil als ideales Ausflugsziel für Tagestouristen. Nachdem der 2011 eröffnete Wanderweg „In Hölderlins Landschaft“ auf durchweg positive Resonanz stieß, dürfen sich seit dem Jahr 2012 die Radfahrer über eine neue Themenroute freuen. „Per Pedal zur Poesie“ heißt Reihe der Radwege, die vom Literaturarchiv Marbach herausgegeben wird.
Die 44 Kilometer lange Strecke führt an Handlungsorten literarischer Texte und wichtiger Schauplätze der südwestdeutschen Geschichte vorbei: Von Nürtingen aus, wo Friedrich Hölderlin oft Zuflucht fand, nachdem er der „Galeere der Theologie“ entflohen war und Dichter zu sein versuchte, führt der Weg über Grötzingen und Wolfschlugen sanft über die Filderebene ins ehemalige Kloster Denkendorf, wo Hölderlin seine Ausbildung zum Theologen begann. Mit einem Seitenblick auf die Geschichte des Pietismus berührt die Tour zahlreiche Pfarrhäuser, in denen Theologie und Dichtkunst oftmals produktive Bündnisse eingingen, aber ebenso oft – wie für Eduard Mörike in Köngen – Konflikte ausfochten. Tief im Wald wird dann ein Hauptort einer wichtigen schwäbischen Sage passiert: der Ulrichstein, der neben Friedrich Hölderlin von Wilhelm Hauff, Gustav Schwab und Peter Härtling bedichtet wurde.
Wer denkt, dass sich die Faszination dieses Radwegs nur literarisch Interessierten erschließt, irrt jedoch. Immer wieder eröffnen sich faszinierende Ausblicke auf die Schwäbische Alb, die „wundersame blaue Mauer“ (Mörike), und auf die Täler des Neckars. Die von der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten (alim) landesweit geplanten literarischen Radwege sollen die Landkarte Baden-Württembergs auf neue Weise erfahrbar machen. Der erste dieser Radwege wurde im Juni 2008 in Hölderlins Geburtsstadt Lauffen a.N. eröffnet. Insgesamt sollen landesweit 25 Radwege eingerichtet werden.
Eröffnungsrede Per Pedal zur Poesie
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich radle, also bin ich: die Drahtesel scharren schon mit den Pedalen und die Klingeln hör ich schon leise wiehern. Wir wollen die Dichter nicht ernster nehmen als sie sich selber und das tun, was der erste Zweck dieses Themenwegs ist: „Per Pedal zur Poesie“ kommen.
Den Themen-Weg gäbe es nicht, hätten wir nicht unsere Dichter. Die Dichter sind nicht nur die Erfinder der gleichnamigen Straßen, sondern auch Vermittler unserer Kultur. Eigentlich ist ein Radweg nicht mit Literatur als solche vereinbar: Um sich mit Literatur zu beschäftigen, dazu braucht es Zeit zum Lesen oder zum Hören. Nun berühren wir auf der Radtour literarische Orte, Wirkungsstätten der Dichter, bekommen Anregungen zum selber erkunden. Das dürfen Sie ganz individuell und in Ruhe machen. Soviel kann ich verraten, es ist erstaunlich, welche vielfältigen Verknüpfungen und Verbindungen die Literatur und die Literaten in der Gegend und vor allem in Nürtingen erkennen lassen, wenn man die Spur mal aufgenommen hat.
Heute bei der Eröffnung haben Sie die Gelegenheit zum Hören, denn jede der beteiligten Gemeinden hat einen Programmpunkt vorbereitet. Ein besonderes Merkmal dieses Radwegs ist die literarische Hommage an die Landschaft. In dieses Loblied stimmen alle Dichter ein. Und dem dürfen Sie sich anschließen. Wenn wir Ihnen einen Ratschlag mit auf Weg geben dürfen, dann der: bitte schauen Sie. Und dazu darf ich Sie nun einladen.
Damit ein Projekt wie dieses gelingt, dazu braucht es viele Menschen, die an einem Strang ziehen. Mir bleibt der Part des Dankes an alle beteiligten Gemeinden, die an der 8. Route der Reihe „Per Pedal zur Poesie“ liegen und zum Gelingen des gesamten Projekts beigetragen haben. Ein besonderer Dank an Herrn Dr. Schmidt aus Marbach, ohne ihn gäbe es diese Reihe nicht, an Frau Kühnle, die geduldig und kompetent die gesamte Koordination als Tourismus-Beauftragte der Stadt Nürtingen übernommen hat. Dank an Herrn Cremer ADFC, der mit seiner hervorragenden Kenntnis der Region die Route um mindestens einen Aussichtspunkt bereichert hat.
Es waren viele! Herzlichen Dank!
Unser Radweg Nr. 8, liegt geografisch zwischen Nr. 6 (Tübingen, Reutlingen) und Nr. 9 (Kirchheim). Wir könnten große Themen ansprechen: Religion – Reformation und Pietismus; Politik – Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, BRD und DDR. Dichtung und Musik auch ein weites Feld. Einiges werden wir in den nächsten Jahren sicherlich noch aufgreifen.
Was ich hier ansprechen will, sind die nicht in der Broschüre erwähnten Begebenheiten (soviel Platz ist nicht vorhanden, das hätte den vorgegebenen Rahmen gesprengt) und vor allem die kleinen Geschichten: Eigentlich ist hier in der Gegend Mörike immer präsent, der fast überall war und dadurch alles verknüpft. Heute gebe ich diese Rolle Nürtingens Ehrenbürger Peter Härtling, er hat vieles verknüpft, aufgedeckt, veröffentlicht: Ottilie Wildermuths „Schwäbische Pfarrhäuser“ identifiziert und veröffentlicht: das „humoristische Pfarrhaus“ als das der Feuerleins aus Wolfschlugen vorgestellt. Feuerleins Tochter, Auguste Eisenlohr war schriftstellerisch nicht so erfolgreich wie ihre Freundin Ottilie Wildermuth, hat der Nachwelt jedoch interessante Schilderungen über Hexenbannerei und Gegenschadenzauber hinterlassen, die in Wolfschlugen eine wichtige Rolle spielten. Um noch bei Wildermuth zu bleiben, sie war eine geborene Roschütz, ihrem realen Vorfahren stellt sie in ihrer Erzählung „Der Kroatenähne“ vor, einer Migrationsgeschichte aus dem 30-Jährigen Krieg. Der Kroatenhof ist hier um die Ecke.
Mir hat Peter Härtling mit dem Vorstellen der realen Person hinter Fontanes „Effi Briest“ leider den ganzen Roman entzaubert: der Hinweis II auf dem 9. Radweg/Kirchheim berührt auch die Station Bad Boll-Eckwälden und Blumhardts Literatursalon, Krankenpflege und Elisabeth von Ardenne… mehr sei hier nicht erwähnt.
Erwähnen muss ich hier Peter Härtlings Roman „Die dreifache Maria. Mörike in seinem Zwiespalt. Eduard Mörike und Maria Meyer – eine Liebe im Reich des Konjunktivs.“ Wobei wir doch bei Mörike angekommen sind. Schon Mörike war Fossiliensammler, die Stücke sind im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Mörike erhielt seinen Ehrendoktortitel von Friedrich August Quinstedt aus Tübingen, dem berühmten Geologen. Fossilien sammelte er auch auf dem Frickenhauser Pfade, humorvoll beschreibt er diese Leidenschaft in seinem Gedicht „Der Petrefaktensammler. An zwei Freundinnen“. Hier reimt er den wissenschaftlichen Begriff Terebrateln (Brachiodpodenart) aufs schwäbische kratteln (krabbeln, kriechen). Es war früher ein beliebtes Spiel der Bevölkerung, die gelehrten Herren (in Württemberg meist Pfarrer) mit gefälschten Fossilien zu erfreuen. Auch Mörike hat solche Fälschungen besessen, diese sogenannten „Würzburger Lügensteine“ wurden bereits im Jahr 1725 gefälscht.
Und noch etwas auch heute Illegales: Raubdrucke. Zahlreiche Raubdrucke sind in Reutlingen entstanden und von Auswanderern in die neue Welt getragen worden. So auch Emmanuel Brastbergers „Evangelische Zeugnisse der Wahrheit“, gedruckt in Reutlingen (siehe: Hinweis I Radweg 6). Die ehemalige Reichsstadt bot wegen ihrer weitgehenden politischen und wirtschaftlichen Autonomie günstige Bedingungen für einen von Zensur und Eigentumsrechten unbetroffenen Buchdruck. Die billigen Reutlinger Raubdrucke wurden von Kolporteuren vertrieben, die mit ihren in Rückentragen durch die Lande transportierten Waren neben religiösen auch aufklärerische und revolutionäre, nicht selten andernorts von der Zensur unterdrückte Schriften einer breiten Leserschaft zugänglich machten.
Peter Härtling hat den wohl berühmtesten Roman über Friedrich Hölderlin geschrieben, er bekennt selber: „… auf dieses Buch habe ich zugeschrieben. In ihm steht ein Stück meines Lebens, meiner Hoffnungen, die mir der große vergangene Bruder weitergegeben hat.“ Peter Härtling liebte Wilhelm Hauffs Roman „Lichtenstein“, er kannte Fritz Alexander Kauffmanns Chronik „Leonhard“, das kann man alles in seinem Hölderlin-Roman nachlesen. Er war Volontär bei der Nürtinger Zeitung. Er hat viele „Stationen für die Erinnerung“ geschrieben, die manchen in Nürtingen nicht ins Konzept passen. Sein Theaterstück „Melchinger Winterreise“ (eigentlicher Handlungsort ist Nürtingen) ist eines dieser literarischen Gedächtnisse. Peter Härtling, Klaus Harpprecht und Nicolas Born kannten sich. Nur Johannes R. Becher steht für sich und hat doch ein „Lob des Schwabenlandes“ geschrieben.
Ingrid Dolde // 5. Mai 2012