Die Geschichte des Hölderlinhauses in Nürtingen
Der Mutter Haus
Hölderlins Haus in Nürtingen
Das Hölderlinhaus in Nürtingen hat eine bewegte Geschichte. Lange Jahre bemühten sich der Initiativkreis Hölderlinhaus und der Hölderlin-Nürtingen e.V. um den Erhalt des Hölderlinhauses als Kulturdenkmal. Es sollte so pfleglich wie möglich behandelt und seine kulturelle Bedeutung hervorgehoben werden. Es gibt mehrere historische Aspekte für den Erhalt des Hölderlinhauses in Nürtingen.
1. Baugeschichtliche Aspekte
An der Stelle des heutigen Hölderlinhauses stand einst der Schweizerhof, 1622 als großes landwirtschaftliches Gebäude des Schlosses von Baumeister Heinrich Schickhardt (1558-1635) geplant. 1748 kaufte das heruntergekommene Gebäude Jakob Friedrich Duttenhofer (1696 – 1769), der Spital- und Bürgermeister in Nürtingen war und gleichzeitig Nürtingens Vertreter im Landesparlament. Er ließ das Gebäude renovieren. Dieses Haus brannte 1750 beim großen Stadtbrand ab, wurde 1751 durch Duttenhofer nach spätbarocker Ensembleplanung (wie viele Wohnhäuser in der Nürtinger Innenstadt und die Gebäude des Spitals) des herzoglichen Baumeisters Johann Groß d. Ä. (1697-1757) wieder aufgebaut. Bis heute in seiner Kubatur erhalten, durch die seit 200 Jahren vorwiegend schulische Nutzung im Innern und im Dachgeschoss manche Veränderungen (1811, 1884, 1904).
2. Sozialgeschichtliche Aspekte
Das historisch wertvolle Gebäude war also ab 1751 Wohnhaus der Familie des Spitalmeisters Duttenhofer. Ab 1774 war es das Wohnhaus der Familie Hölderlin-Gock. Hölderlins Stiefvater betrieb hier einen Weinhandel, die Familie bewohnte das Haus 24 Jahre lang (1774-1798). Nach 1795 war es zugleich Bäckerei und Wohnhaus der Familie Maier. Seit 1811 im Besitz des Spitals, erfuhr das Haus eine vielfältige Nutzung als Schulhaus, Suppenküche für die Armenspeisung, Kindergarten und Lehrerseminar. Später kam es in den Besitz der Stadt Nürtingen. Seit dem 19. Jahrhundert wurde es durchgängig genutzt als Schulhaus: Knabenschule, Volksschule, Hölderlin-Gymnasium, VHS-Gebäude bis heute.
3. Literaturgeschichtliche Aspekte
Das heute Hölderlinhaus genannte Gebäude war von 1774 bis zum Auszug der Mutter 1798 das Wohnhaus der Familie Friedrich Hölderlins. Hier verbrachte Hölderlin seine Kindheit und Jugend. Während der Studienjahre war das Haus Aufenthalt für die Vakanzen und in den darauf folgenden Jahren war das Haus der Familie („der Mutter Haus“) auch immer wieder Zufluchtsort für den verzweifelten und nach einer Stellung in der Gesellschaft suchenden Hölderlin.
Jakob Kocher, der Entdecker der Geschichte des Hölderlinhauses schrieb schon 1918 im Schwäbischen Merkur: „Eine recht interessante Geschichte hat das Knabenschulhaus in der Neckarsteige.“ Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, bis die geschichtliche Dimension dieses historischen Gebäudes allgemein anerkannt war. Erst mit dem von der Stadt Nürtingen in Auftrag gegebenen und Anfang 2009 öffentlich gemachten bauhistorischen Gutachten wurden die interessanten Ergebnisse des Bauhistorikers Johannes Gromer Basis für eine Kontovers geführte Diskussion über die Erhaltung des Hölderlinhauses. Die Stadt Nürtingen beschloss 2019 die Aufstockung und den weitgehenden Abriss des geschichtsträchtigen Gebäudes.
Die Stille. 1788.
Die du schon mein Knabenherz entzüktest,
Welcher schon die Knabenträne floß,
Die du früh dem Lärm der Thoren mich entrücktest,
Besser mich zu bilden, nahmst in Mutterschoos,
Dein, du Sanfte! Freundin aller Lieben!
Dein, du Immertreue! sei mein Lied!
Treu bist du in Sturm und Sonnenschein geblieben,
Bleibst mir treu, wenn einst mich alles, alles flieht.
Jene Ruhe – jene Himmelswonne –
O ich wußte nicht, wie mir geschah,
Wann so oft in stiller Pracht die Abendsonne
Durch den dunklen Wald zu mir heruntersah –
Du, o du nur hattest ausgegossen
Jene Ruhe in des Knaben Sinn,
Jene Himmelswonne ist aus dir geflossen,
Hehre Stille! holde Freudengeberin!
Dein war sie, die Träne, die im Haine
Auf den abgepflückten Erdbeerstraus
Mir entfiel – mit dir ging ich im Mondenscheine
Dann zurück ins liebe elterliche Haus.
Fernher sah ich schon die Kerzen flimmern,
Schon wars Suppenzeit – ich eilte nicht!
Spähte stillen Lächelns nach des Kirchhofs Wimmern
Nach dem dreigefüßten Roß am Hochgericht.
War ich endlich staubigt angekommen,
Theilt‘ ich erst den welken Erdbeerstraus,
Rühmend, wie mit saurer Müh ich ihn bekommen,
Unter meine dankende Geschwister aus;
Nahm dann eilig, was vom Abendessen
An Kartoffeln mir noch übrig war,
Schlich mich in der Stille, wann ich satt gegessen,
Weg von meinem lustigen Geschwisterpaar.
O! in meines kleinen Stübchens Stille
War mir dann so über alles wohl,
Wie im Tempel war mirs in der Nächte Hülle,
Wann so einsam von dem Turm die Gloke scholl.
Alles schwieg und schlief, ich wacht‘ alleine;
Endlich wiegte mich die Stille ein,
Und von meinem dunklen Erdbeerhaine
Träumt‘ ich, und vom Gang im stillen Mondenschein.
Als ich weggerissen von den Meinen
Aus dem lieben elterlichen Haus
Unter Fremde irrte, wo ich nimmer weinen
Durfte, in das bunte Weltgewirr` hinaus,
O wie pflegtest du den armen Jungen,
Teure, so mit Mutterzärtlichkeit,
Wann er sich im Weltgewirre müdgerungen,
In der lieben, wehmutsvollen Einsamkeit.
Als mir nach dem wärmern, vollern Herzen
Feuriger itzt stürzte Jünglingsblut;
O! wie schweigtest du oft ungestüme Schmerzen,
Stärktest du den Schwachen oft mit neuem Mut.
Jetzt belausch ich oft in deiner Hütte
Meinen Schlachtenstürmer Ossian,
Schwebe oft in schimmernder Seraphen Mitte
Mit dem Sänger Gottes, Klopstock, himmelan.
Gott! und wann durch stille Schattenheken
Mir mein Mädchen in die Arme fliegt,
Und die Hasel, ihre Liebenden zu deken,
Sorglich ihre grünen Zweige um uns schmiegt –
Wann im ganzen segensvollen Thale
Alles dann so stille, stille ist,
Und die Freudenträne, hell im Abendstrahle
Schweigend mir mein Mädchen von der Wange wischt –
Oder wann in friedlichen Gefilden
Mir mein Herzensfreund zur Seite geht,
Und mich ganz dem edlen Jüngling nachzubilden
Einzig vor der Seele der Gedanke steht –
Und wir bei den kleinen Kümmernissen
Uns so sorglich in die Augen sehn,
Wann so sparsam öfters, und so abgerissen
Uns die Worte von der ernsten Lippe gehn.
Schön, o schön sind sie! die stillen Freuden,
Die der Thoren wilder Lärm nicht kennt,
Schöner noch die stillen, gottergebnen Leiden,
Wann die fromme Träne von dem Auge rinnt.
Drum, wenn Stürme einst den Mann umgeben,
Nimmer ihn der Jugendsinn belebt,
Schwarze Unglückswolken drohend ihn umschweben,
Ihm die Sorge Furchen in die Stirne gräbt,
O so reiße ihn aus dem Getümmel,
Hülle ihn in deine Schatten ein,
O! in deinen Schatten, Teure! wohnt der Himmel,
Ruhig wirds bei ihnen unter Stürmen sein.
Und wann einst nach tausend trüben Stunden
Sich mein graues Haupt zur Erde neigt,
Und das Herz sich mattgekämpft an tausend Wunden
Und des Lebens Last den schwachen Nacken beugt:
O so leite mich mit deinem Stabe –
Harren will ich auf ihn hingebeugt,
Biß in dem willkommnen, ruhevollen Grabe
Aller Sturm, und aller Lärm der Toren schweigt. Friedrich Hölderlin, Marbacher Quartheft
Anmerkungen Hölderlins am Rande der Reinschrift in sogenannten Marbacher Quartheft:
Beim Vers: „Nach dem dreigefüßten Roß am Hochgericht.“ „Ein Nürtinger Mährchen.“
Beim Vers: „An Kartoffeln mir noch übrig war“ (Kartoffel unterstrichen)“NB Erdbirne.“
Dreigefüßte Roß: Ein Aberglauben, dass böse Menschen, Ermordete und Selbstmörder nach ihrem Tod als dreibeinige Pferde umgehen.
PS: Kartoffeln werden im Schwäbischen auch Äbbirra genannt (Erdbirnen).
Erstveröffentlichung: Homepage Hölderlin-Nürtingen e.V. 2009