Das Nürtinger Hölderlinhaus nach 1811
Die Schulen im Hölderlinhaus
Barbara Leib-Weiner, veröffentlicht in der Nürtinger Zeitung vom 28.12.2013
Nicht als Wohnhaus der Familie Duttenhofer oder der Familie Friedrich Hölderlins kennen wohl die meisten älteren Bewohner das Hölderlinhaus an der Nürtinger Neckarsteige mit seinen vielen Zimmern. Für sie ist es das Haus, in dem sie einst manches Jahr die Schulbank drückten. Und wenn es heute von der Volkshochschule für den Unterricht von Erwachsenen genützt wird, so fügt sich das ein in eine jahrhundertelange Bildungsgeschichte Nürtingens, an der das Gebäude seit 1811, also seit über 200 Jahren einen beträchtlichen Anteil hat.
Nürtingen nahm immer eine ganz besondere Stellung in der Entwicklung des Schulwesens ein. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Es besaß eine zu ihrer Zeit namhafte Lateinschule, aus der manch bedeutender Mann hervorging, eine Deutsche Schule, dann ganz früh eine Mädchenschule; es erhielt die erste Realschule im Land, ebenso sehr bald eine Industrie- und Handelsschule. Meist wagte Nürtingen lange vor anderen Städten die Neuerungen.
Dafür brauchte die Stadt Räume, immer wieder Räume, und gute Lehrer. Für all das sorgte eine besondere Nürtinger Institution, die, was ungewöhnlich für die damalige Zeit war, von den Bürgern der Stadt eingerichtet worden war. Es war der reiche Nürtinger Spital, der neben vielen anderen Aufgaben die Verantwortung für das Schulwesen trug. Mit seinem Einsatz sorgte er dafür, dass Nürtingen eine vielseitige und moderne Schulstadt wurde. In unserer heutigen Sprache würde man sagen: Die Nürtinger wussten früh, welchen Wert Bildung für den Fortschritt hat.
Das Hölderlinhaus als Mädchen- und Industrieschule
1811 erwarb der Spital das einstige Wohnhaus der Familien Duttenhofer und Hölderlin-Gock durch Kauf von den Erben der Waldhorngaststätte. Dazu sah er sich wohl gezwungen, weil eine Generalschulverordnung vorschrieb, dass mit jeder öffentlichen Schule eine Industrie- und Arbeitsschule verbunden sein musste. Auf einer Tafel am Hölderlinhaus kann man die entsprechende Inschrift lesen: „Anno 1812 erkauft und zur Lehr- und Industrieschul eingerichtet“.
Bevor die Schulen einzogen, musste das herrschaftliche Wohnhaus zum Schulhaus umgestaltet werden. Vom Hölderlin-Wohnhaus gibt es keine Bilder, die zeigen, wie das Gebäude damals von außen aussah. Nur Kostenlisten und Grundrisse, in welche die Baumaßnahmen eingezeichnet wurden, sind aus dem Jahr 1811 erhalten. Da jedoch nach dem Stadtbrand von 1750 alle Neubauten in der Innenstadt nach den Vorgaben und Plänen des herzoglichen Baumeisters Groß im spätbarocken Ensemble-Stil errichtet wurden, kann man von einer großen Ähnlichkeit der beiden Bauten Spital und Duttenhofer-(Hölderlin-)Haus ausgehen.
1812 wusste man allerdings noch nicht, dass wenige Jahre später diese Schulart nicht nur dem Auffangen sonst nicht beschulter Kinder zu erzieherischen Zwecken diente, sondern Kindern helfen musste, die eine Naturkatastrophe in bitterste Not stürzte. Die furchtbaren klimatischen Auswirkungen, die Ende 1815 der Ausbruch des Vulkans Tambora auf Java hatte, zwangen den Spital dazu, die hungernden und deshalb bettelnden und stehlenden Kinder von der Straße zu holen, sie zu beschäftigen und ihnen das nötigste Essen zu geben. Der Sommer 1816 war ein Winter, denn die Vulkanasche, die um die Erde bewegt wurde, ließ kaum Sonnenlicht durch; sogar im August verfaulten die Pflanzen in Regen und Schnee. Vor allem die Nahrung für Mensch und Tier, Getreide, Kartoffeln und Gras gedieh nicht. So kam der Spital mit der Gründung der Industrieschule sowohl dem Auftrag der neuen Pädagogik nach, den Menschen durch nützliche Arbeit zu bessern, als auch der Notwendigkeit, die Öffentlichkeit vor den streunenden Kindern zu schützen und deren schlimmstes Magenknurren zu stillen.
Die Knabenvolksschule zieht ein
Die bedürftigen Familien erhielten nur soziale Hilfe, wenn sie ihre Kinder in die Industrieschule schickten. Geplant war, dass die Knaben Wolle spinnen und ihre eigene Kleidung ausbessern lernen, die Mädchen Fertigkeiten im Spinnen, Stricken und Nähen erhalten. Doch half die Schule damit auch besonders der aufstrebenden Textilindustrie, wenn die Kinder in meist berstend vollen, stickigen und staubigen Räumen in großer Zahl mit Baumwollarbeit beschäftigt und auf die Hilfsarbeit in Fabriken vorbereitet wurden.
In den über der Industrieschule liegenden Räumen durften erstmals Mädchen in reinen Mädchenklassen Lesen und Schreiben lernen. Schon hundert Jahre bevor Württemberg die Schulpflicht für Mädchen einführte, konnten in Nürtingen Mädchen die Schule besuchen, durften sogar Rechnen lernen. Im Hölderlinhaus bekamen sie, weil die anderen Schulhäuser zu eng wurden, „drei schöne, geräumige und helle Zimmer“. Das oberste Stockwerk war die Wohnung des Mädchenschulmeisters.
1844 zog die Mädchenschule in ein neues Haus um, in die schöne und großzügig gebaute Schlossbergschule, die als Musterschule eingerichtet wurde und auch die Verwaltung des Spitals beherbergte.
In die Räume des Hölderlinhauses, die nun frei wurden, zog die Knabenvolksschule ein, die bis dahin auf drei Häuser verteilt war. Die Jungen lernten zunächst in den beiden unteren Stockwerken die damals üblichen Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und Moral. Die Lehrerwohnung bestand weiterhin.
Doch bald traten in der Belegung des Hauses Veränderungen ein. Zwar blieb die Knabenvolksschule im Haus, doch wurde im untersten Stockwerk in den Notjahren nach 1848 auf Betreiben von Auguste Eisenlohr, der großen Wohltäterin in Nürtingen, wieder eine Suppenküche eingerichtet, eine kostenlose Speiseanstalt für die Armen. Zehn Jahre blieb sie bestehen.
Ins oberste Stockwerk zogen die Präparanden des im Spital untergebrachten Lehrerseminars ein. Theodor Eisenlohr, der Rektor des Seminars, hielt die zweijährige Ausbildung zum Volksschullehrer für zu kurz und setzte sich dafür ein, dass die meist erst 14-jährigen Jungen vor der Zeit im Seminar allgemeinbildenden Unterricht erhielten, begleitet von Übungen im Lehren – heute würde man das duales System nennen. Die Präparanden lernten das Lehren in den Klassen der Musterschülerinnen in der Schlossbergschule. 1881 zogen sie ins Trautweinsche Haus um (heute Neckarsteige 10).
All die Veränderungen, die immer wieder Räume be- und freisetzten, machten es wohl 1881 nötig, an das Gebäude selbst zu denken. Haus und Räume wiesen tiefe Mauerrisse und viele andere Schäden auf. Nachdem man den Plan, den Steinernen Bau zur Knabenvolksschule umzubauen, verworfen hatte, wollte man das Hölderlinhaus ganz abbrechen und es, um ein Stockwerk höher, neu errichten. Doch aus unbekannten Gründen blieb das Gebäude stehen, erfuhr allerdings bauliche Eingriffe. Der auch damals für ein Wohnhaus außerordentlich große Keller wurde stark verkleinert. Weitgehend erhalten blieb der südöstliche Teil des Hauses und damit der Bereich, den die Familie Hölderlin-Gock hauptsächlich bewohnt hatte.
Seit 1880, also noch vor den Abrissabsichten, war in die untere Etage auf Höhe des Gärtleins eine Kleinkinderschule eingezogen. Auch hier ging Nürtingen wieder voran bei der Einrichtung eines Kindergartens. Heute kaum vorstellbar, welche Disziplin die einzige Betreuerin den Kindern abverlangen musste, denn die Knaben hatten, ein Stockwerk über den Kleinkindern, nach dem Umbau Unterricht im gleichen Haus. 1910 zog die Kleinkinderschule in den Kührain.
Inzwischen war der Zeichenunterricht in den Volksschulen eingeführt worden, mit ihm die Formenlehre, das Zeichnen nach Natur und Vorlagen. Schwer war der Turnunterricht durchzusetzen. Erst als Turnvereine und das Kriegsministerium das Turnen für wesentlich hielten, wurde es ab 1884 ein obligatorisches Fach. Mädchen wurden ab 1884 in Handarbeit unterrichtet.
Ganz allgemein erfuhr die Pädagogik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einschneidende Veränderungen. Auch die gesellschaftliche Stellung der Lehrer wurde mehr geachtet und gesichert, nachdem Lehrergewerkschaften dafür gekämpft hatten. Diese Modernisierung des Unterrichts forderte nach zwanzig ruhigen Jahren einen erneuten baulichen Eingriff in die Gestalt des Hauses. 1904 wollte man in das oberste Stockwerk, in den Dachstock, Zeichensäle einbauen. Da Gebälk und Dach defekt waren, wählte man eine „bessere und billigere“ Lösung. Man stellte den Dachstock gerade, um Zeichensaal und Zimmer unterzubringen, und veränderte damit das mit dem gegenüberliegenden Spitalgebäude harmonierende Äußere gewaltig. Kochers Urteil zum umgebauten Haus lautete: „Der Bau wurde zur Unzierde der Stadt durchgeführt“. Man kann schlussfolgern, dass das damalige Stadtbild von schön gestalteten Häusern bestimmt war.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in der Knabenschule auch Mädchen unterrichtet. Ab 1920 verwendete man die unteren Räume als Kochschule. Mädchen, die keine Lehre begannen und keine weiterführende Schule besuchten, lernten theoretisch und praktisch an einem Morgen in der Woche die hausfrauliche Tätigkeit des Kochens. Eine Küche befindet sich noch immer im Erdgeschoss.
Aus der Knabenschule wurde die Hölderlinschule
Da die 1929 erbaute Realschule einen Dichternamen erhielt, sie wurde „Mörikeschule“ genannt, erhielt auch die Knabenschule den Namen eines mit Nürtingen eng verbundenen Dichters. Aus der Knabenschule wurde die „Hölderlinschule“.
Erst 1918 war bekannt geworden, dass die Knabenschule das einstige Elternhaus Hölderlins gewesen war. Kocher hatte, angeregt durch die Nachfrage französischer Literaten, die diesen in Deutschland fast vergessenen Dichter verehrten, nach dessen Elternhaus gesucht und die Bestätigung gefunden, dass das heutige Hölderlinhaus „der Mutter Haus“ Hölderlins war. 1922 wurde von der Stadt Nürtingen eine kleine Tafel angebracht, die darauf hinweist.
Ende des Zweiten Weltkriegs war für kurze Zeit die Oberschule, das heutige Max-Planck-Gymnasium, Gast im Haus, da deren Schulhaus als Lazarett diente.
Nach dem Krieg stieg die Bevölkerungszahl, wuchs der Wohlstand, wurden die Ansprüche an die Schulen langsam höher und die Klassen kleiner. Bis 1970 diente das Gebäude als Schulhaus für die 3. und 4. Klassen Volksschule, in jedem Jahrgang eine Mädchen-, eine Jungenklasse und eine gemischte Klasse. Es wuchs mit den neuen Stadtteilen auch die Zahl der Schulen. Vor allem am Rand der Stadt entstanden neue Schulhäuser. Die Volksschule brauchte das Hölderlinhaus nicht mehr.
Das Hölderlin-Gymnasium entsteht
Da das Max-Planck-Gymnasium trotz Um- und Anbau nicht mehr genug Platz in seinem Haus hatte, trennte sich 1970 ein sprachlich ausgerichtetes Gymnasium von ihm ab, das Hölderlin-Gymnasium. Es zog ins Hölderlinhaus und blieb dort bis 1978. Ein neues Schulhaus am Lerchenberg ermöglichte es ihm, an Schülerzahl über das Max-Planck-Gymnasium hinauszuwachsen. Viele Högy-Gymnasiasten hatten jedoch die Intimität des Hölderlinhauses geschätzt, auch die Verbundenheit mit der Stadt, die sich aus seiner Lage im Stadtkern ergab. Andere Schüler waren des alten Gemäuers und der Säulen in den Unterrichtsräumen überdrüssig.
Noch einmal wurde das Hölderlinhaus Übergangsgebäude für eine wachsende Schule. Die damalige Sonderschule, heute Förderschule oder Theodor-Eisenlohr-Schule, brauchte einen festen Ort. 1976 wurden ihre 18 Klassen in sechs verschiedenen Schulhäusern unterrichtet. So war man froh, dass 1978 alle Klassen in dem frei gewordene Hölderlinhaus Einzug halten konnten. Doch auch für diese Schule wurde das Gebäude zunehmend zu eng, und 1984 verließ sie es in Richtung Mühlwiese, wo sie ein neues Haus bekam.
Die Volkshochschule und die Musikschule
Nach dem Auszug der Theodor-Eisenlohr-Schule wurde die Städtische Volkshochschule Hausherrin und setzt bis heute die über 200-jährige Schultradition des Hölderlinhauses fort. Sie verwendet bis jetzt die Räume für einen Teil ihres Unterrichts. Gast ist die Musikschule, die unter dem Dach einige Übungs- und Unterrichtsräume hat.
Da auch diese Schulen, wie alle vorangehenden, wuchsen und wuchsen, sollte im Jahr 2008, wie schon 1884, die Abrissbirne Platz schaffen für ein neues Haus, eine Art Doppelhaus. Doch nicht zuletzt wegen Bürgerprotesten blieb das Hölderlinhaus als Stätte der Bildung weiter bestehen.