Härtlings Dankesrede zur Verleihung des Hölderlin-Rings
Von Peter Härtling // 19. Januar 2013
Als ich mir vornahm, ein Buch über Hölderlin zu schreiben, mich in sein Werk hineinlas, den Wegen nachging, die er gegangen war, fing ich an, seine Verse vor mich hin zu reden. Oder ich hörte auf die Stimmen, die mich in Nürtingen umgaben. Ich hörte hin aus der Distanz des Hinzugekommenen. Mit der Neugier und der Irritation des Flüchtlingskindes, das erst einmal in Raidwangen und danach in Nürtingen Schwäbisch lernte und sogar träumte. Hölderlin, sagte ich mir, der mit einer ungeheuren Energie die Sprache an ihre Ränder trieb und uns auf diese Weise neue und unerhörte Gedankenräume erschloss, dachte sie, wie er sie hörte: in seiner Mundart. Natürlich gleichsam erhöht und gereinigt, doch auf ihrem gesprochenen Grund. Um diese seiner Dichtung innewohnende Spannung anzudeuten, ließ ich ihn, vor allem in den Kindheitskapiteln, auch wenn es um Emotionen geht, schwäbisch sprechen. Ich rechnete nicht mit dem Gezeter, das diese Beschmutzung eines reinen Geistes durch seine Lebenswirklichkeit auslöste. Dass der Hölderlin redet wie die Leute auf der Gasse, das ist ein starkes Stück! Besonders schwäbische Germanisten und Rezensenten alterierten sich. Vermutlich dachten sie ihre Rage erst einmal in der Mundart, um mir dann schriftdeutsch die Leviten zu lesen. Vor allem Peter Hamm, ein Schwabe, fiel über mich her und erklärte einen schwäbisch schwätzenden Hölderlin als Sakrileg. Jahre danach entschuldigte er sich für diese Rüge.
Dann wurde mir demonstriert, was ich geahnt hatte. Es ist lang her. Im Hof des Tübinger Stifts wurde ein Hölderlin-Stück aufgeführt. Die jungen Schauspieler gaben sich Mühe, Bühnendeutsch zu sprechen. Ab und zu wurde ein Gedicht Hölderlins rezitiert. Und dies von einem jungen Mann, der geradezu herausfordernd bei seiner Mundart blieb. Bei der Premierenfeier sagte ich, dass mich der schwäbische Hölderlin überrascht, doch auch überzeugt habe. Sie hätten diskutiert, sich die Köpfe heiß geredet, ob das überhaupt ginge. Ich beruhigte den beunruhigten Rezitator: er habe ja aus den großen Gedichten Hölderlins keine Mundartdichtung gemacht. Im Gegenteil. Durch sein Sprechen sei die Grundmelodie der Hölderlinschen Lyrik deutlich geworden, ihre Einfärbung, ihr Rhythmus.
Den andern, der Hölderlin unvergleichlich nachredet, den kennen Sie, den haben Sie gehört. Ich hörte ihn zum ersten Mal auf dem luftigen Spielgerüst vorm Turm. Er spielte den Hölderlin in der Zimmerschen Obhut. Bewegt und atemlos verfolgte ich, auf den Stufen am Neckar hockend, die Herkunft und Spur einer Sprache, die Generationen nahegegangen ist. Mein Freund Bernhard Hurm weiß viele Gedichte Hölderlins auswendig, er hat sie sich angeeignet, hat sich das Sperrige, das oft Maßlose zu eigen gemacht. Sehr souverän und selbstverständlich, denn die Ferne spricht er aus der Nähe.
Nach dieser Einleitung möchte ich vorführen, worum es mir geht. Und das an einem Gedicht, das Sie kennen und vielleicht lieben (um genau zu sein, müsste ich sagen: brauchen) wie ich: die vier Verse, die er für Zimmer schrieb. „Die Linien des Lebens sind verschieden.“ Was für ein Einsatz, der Beginn eines Lieds – das lässt sich einfach und leicht hinsagen: die Linien des Lebens sind verschieden. Doch sobald sich die Wörter erinnern, ihren Grund finden, wechseln die Töne. Dem Metrum wird mit einem Mal genauer gefolgt. Nicht Linien, sondern die Lini:en— Die Lini:en des Lebens sind verschieden. Oft stiehlt sich im Schwäbischen unter das offene E bei Leben oder Wegen eine kaum hörbare Färbung, ein Umlaut, ein Ä. Wie We(ä)ge sind und das I wiederum von sind, dunkelt sich ein in ein flüchtiges E: „send“.
Nein, ich will hier nicht federfuchsen, nicht von neuem einen Mundartstreit vom Zaun brechen. Wichtig allein ist mir, auf den hörbaren Grund der Hölderlinschen Dichtung hinzuweisen. Es könnte sein, dass sich da manche Dunkelheit aufhellt, manches Rätsel sich erschließt.
Wie in Hölderlins Umgebung gesprochen und gedacht wurde, offenbart eine Stelle in einem Brief Zimmers. Es ist der große Brief, in dem er die schwere Krise seines Pfleglings schildert. Der „eigene Geruch“ in Hölderlins Zimmer habe nachgelassen. Da geht es nicht um den Körpergeruch des Kranken, sondern darum, dass es im Zimmer „oige“, besonders, riecht.
„oige“ wird die Strophe für Zimmer auch dort, wo ein Wort seinem Gedächtnis nachgibt:
!Die Linien des Lebens sind verschieden,
Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen,
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.!
Aus dem E wird ein Ä, die „Gränzen“ fordern den Reim „ergänzen“, selbstverständlich, weil sie sich so hören.
Es ist eher ein Mithören, ein Changieren zwischen Rede und Schrift. Zum Schluss noch ein Beispiel, das mich in meiner Meinung durchaus bestärkt: „Andenken“ zählt zu den wunderbaren Gedichten, die ein ganzes Leseleben beanspruchen. Andenken. Hören Sie’s? Das nicht offen, lang und etwas nasal tönend – Aandenken. Gleich mit den ersten Versen des Gedichts lässt sich vorführen, dass im Schwäbischen das S eine besondere Rolle spielt, manchen Satz einfärbend und bestimmend:
„Der Nordost wehet,
der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
und gut Fahrt verheißet…“
Dreimal das S, breit werdend als Sch im Nordoscht, doch ganz und gar unabdingbar im Geischt, dem, der den jungen Hölderlin, der Hegel und Schelling bewegte. Nicht der Geist, der Geischt. Den lasse ich mir nicht nehmen.
Ich danke für die Freundlichkeit, für den Ring aus eben jenem Geischt.